EM-Kolumne

Schweizer Tragik und Englands ekliger Minimalismus

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Enttäuschte Schweizer (Foto: Carl Recine - Getty Images)

Auch die beiden Viertelfinalspiele am Samstag waren eng - minimalistische Engländer schlugen die Schweiz im Elfmeterschießen, die Türkei verlor knapp und unglücklich gegen die Niederlande. Spannend war das, spektakulär aber nur in wenigen Phasen. Der Sicherheitsfußball setzt sich immer mehr durch. Die EM-Kolumne, Teil 19.

Die Verlängerung zwischen der Schweiz und England war acht Minuten alt, da wurde Denis Zakaria eingewechselt und kam zu seinem ersten Einsatz bei dieser EM. Mit ihm und Yann Sommer, Granit Xhaka und Breel Embolo standen somit vier Ex-Gladbacher auf dem Feld und allein das dürfte ausgereicht haben, um den Schweizern den Einzug ins Halbfinale zu gönnen. Da zudem die Engländer die Zuschauer einmal mehr ihren extremen Sicherheitsfußball quälten, hätte es die Schweiz doppelt und dreifach verdient gehabt. 

Doch wie schon am Freitag bei der unglücklichen Niederlage von Deutschland festgestellt - Fußball ist selten wirklich gerecht. Nun war es zwar nicht so, dass die Schweizer in den 120 Minuten ein Feuerwerk abgebrannt hätten, aber sie waren gegenüber den übervorsichtigen Engländern das deutlich aktiviere Team. Als Breel Embolo in der 75. Minute die Schweizer Führung erzielte, schien das Spiel in die richtige Richtung zu laufen. Doch England reagierte auf den Rückstand mit einer sofortigen Abkehr vom Anti-Fußball. 

Sommer im Elfmeterschießen im Gladbach-Modus

Plötzlich waren sie da, es ging zügig und schnell. Das allerdings nur knappe fünf Minuten lang. Denn da glückte Saka der Ausgleich. Als die englischen Spieler nach Wiederanstoß einfach weiter nach vorne spielen wollten, ruderte Englands Coach nebst Co-Trainer wie verrückt mit den Armen, um alle wieder einzufangen und zurück ins Sicherheitskonzept zu pressen. Verrückt, aber wahr - England setzte lieber aufs Elfmeterschießen, als in der Verlängerung einen Hauch von Risiko zu wagen, um den Shootout zu umgehen. 

Es ist jammerschade, dass diese Angsthasentaktik am Ende von Erfolg gekrönt war. Weil der Ex-Dortmunder Akanji den ersten Elfmeter für die Schweiz so schwach schoss, dass Pickford gar nicht anders konnte, als den Ball zu halten, waren die Engländer direkt im Vorteil. Yann Sommer, der als Gladbacher Torwart in all den Jahren kaum mal einen Elfmeter pariert hatte, dafür aber im Nationaltrikot oftmals als  ‘Elfer-Killer’ über sich hinauswuchs, war diesmal leider im Gladbach-Modus unterwegs. Da zudem die englischen Schützen entgegen ihrer Tradition ausnahmslos alle ultracool blieben, war Akanjis Fehlschuss letztlich ausschlaggebend für das bittere Aus der Schweizer. Damit war gleichzeitig klar, dass die EM für Nico Elvedi vorbei ist - er blieb ohne jede Einsatzminute.

Oranje dreht das Spiel und rettet den Vorsprung mit Glück über die Zeit

Nach Frankreich zog mit England also das zweite Team ins Halbfinale ein, das im gesamten Turnier alles der Risikovermeidung untergeordnet hat. Es ist bedauerlich, dass dieser unattraktive, beliebig austauschbare und langweilig anzusehende Fußball letztlich erfolgreich ist. Das wird dazu führen, dass noch viel mehr Teams diese Stilmittel wählen und ein herzerfrischender Schlagabtausch mit beidseitig offenem Visier immer seltener zu sehen sein wird. Auch die Niederlande agierten in diesem Turnier sehr viel mit angelegtem Sicherheitsgurt, wenn auch nicht ganz so extrem wie England und Frankreich. 

In der ersten Halbzeit in Berlin gegen die Türken, die bisher nicht dem Sicherheitsfußball verfallen waren, sah Oranje ziemlich blass aus. Die enthusiastischen Türken führten zur Pause verdient mit 1:0 und das Aus der Niederlande schien Formen anzunehmen. Doch durch die Einwechslung des Hoffenheimers Wout Weghorst änderte sich die Statik des Spiels komplett. Die Elftal agierte plötzlich mit Zielstrebigkeit und Wucht, während aufseiten der Türkei sichtbar die Kräfte schwanden. Zwischen der 70. und 76. Minute drehte die Niederlande verdientermaßen das Spiel und rettete das 2:1 gegen am Schluss verzweifelt anrennende Türken mit einer gehörigen Portion Glück über die Zeit. 

Auf dem Papier vielversprechende Halbfinal-Duelle

Das Ausscheiden der Türkei ist schade, denn die Mannschaft hat mit ihrem leidenschaftlichen und aufopferungsvollen Fußball für Unterhaltung und teilweise sogar Begeisterung gesorgt. Sportlich verdienen sie absolute Hochachtung, während das Drumherum zuletzt maximal unangenehm war. Insofern ist es vielleicht nicht so schlecht, dass das Turnier an diesem Abend in Berlin für die Türkei geendet hat. In den Halbfinalspielen treffen nun Spanien und Frankreich (Dienstag, 21.00 Uhr) sowie die Niederlande und England (Mittwoch, 21.00 Uhr) aufeinander. Vom Papier her klangvolle Namen, die viel versprechen. Ob das in der Realität so sein wird, muss angesichts der bisherigen Performance eher bezweifelt werden.

 

von Marc Basten

 

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