Man mag sich gar nicht ausmalen, wie die Mitgliederversammlung bei Borussia wohl verlaufen wäre, wenn die Fohlenelf in der Rückrunde auswärts nur halbwegs normal gepunktet hätte. In Anbetracht der schwächelnden Konkurrenz wäre die neuerliche Champions-League- Qualifikation nur noch eine Formsache und angesichts der wirtschaftlichen Rekordzahlen würden sich die Mitglieder wohl auch Tage später noch freudetrunken in den Armen liegen.
Borussias Geschäftsführer Stephan Schippers durfte das Geschäftsjahr 2015 als das »wirtschaftlich erfolgreichste, das Borussia je hatte« bezeichnen. Der Umsatz lag bei 160 Millionen Euro und konnte damit innerhalb der letzten fünf Jahre annähernd verdoppelt werden.
Borussia boomt auf allen Ebenen und auch im Kerngeschäft, dem sportlichen Bereich, liegt man vier Spieltage vor Saisonschluss auf Kurs. Und dennoch haben die Auftritte in Ingolstadt und Hannover dafür gesorgt, dass Sportdirektor Max Eberl auf der Mitgliederversammlung die Worte »beschissen« oder »Tristesse« nutzen musste.
Ein Favre-Plagiat würde krachend auffliegen
Natürlich gab es für Eberl keinen Grund, etwas zu Dramatisieren. Seine Umschreibung vom »Wechselbad der Gefühle auf hohem Niveau« trifft das Stimmungsbild wohl am besten. Es ist eine Saison der Extreme: Der katastrophale Saisonstart und die Flucht von Lucien Favre sind weit weg, schon fast aus einer anderen Epoche. Andererseits sind Favre und sein Wirken noch so präsent, dass man das Gefühl nicht loswird, dass Lucien bald seine Auszeit beendet und da weiter macht, wo er hingehört.
Das hat natürlich nichts mit der Realität zu tun, doch es fällt halt schwer, loszulassen, wenn man im Grunde gar nichts ändern möchte. André Schubert hat Borussia im Herbst mit der sensationellen Serie vor einem Absturz ins Bodenlose bewahrt und eine eigentlich schon komplett zerstörte Saison gerettet. Diese Monate waren wie ein Rausch und haben unfassbar Spaß gemacht.
Jetzt während der Rückrunde, wo der Rausch weitestgehend verflogen ist, reift die Erkenntnis, dass Borussia sich tatsächlich in einem Umbruch befindet. Dem muss man sich stellen, weil er zwar nicht gewollt, aber unvermeidlich ist. Die Ära Favre ist endgültig vorbei und es ist unsinnig, ihr hinterher zu trauern oder zu erwarten, dass ein anderer die Arbeit eins zu eins weiterführen könnte. Ein Favre-Plagiat würde krachend auffliegen, denn das Original ist viel zu speziell.
Schubert ist weiterhin in einer Art Bewährungsphase
Borussia muss sich weiter entwickeln und ein Stück weit neu finden. Doch gerade das ist angesichts der erfolgreichen - und zusehends verklärten – jüngeren Vergangenheit kompliziert. Es bereitet fast körperliche Schmerzen, wenn André Schubert von den vielen Dingen spricht, die verändert und verbessert werden sollen. Wäre Borussia ein ‚normaler‘ Tabellenletzter gewesen, hätte Schubert mit der Aussicht auf Veränderungen offene Türen eingerannt. Doch die Fohlenelf im Spätsommer 2015 litt unter temporären Funktionsstörungen, aber benötigte keine Komplettsanierung.
Auch deshalb blieb gegenüber Schubert eine gewisse Grundskepsis, an der auch die imposante Siegesserie nichts änderte. Trotz des Übergangs vom Interimstrainer zum Chef mit Vertrag bis 2017 befindet sich Schubert weiterhin in einer Art Bewährungsphase. Die Nachhaltigkeit und Substanz seiner Arbeitsweise muss er, in zugegeben undankbar großen Fußstapfen, noch unter Beweis stellen.
Auch wenn die Rückrunde eher schleppend verläuft, so hat sich Schubert gleichwohl weiterentwickelt. Er gab sich nach außen zwar resistent in Bezug auf die Kritik an der Gegentorflut, beeilte sich gleichzeitig intern darum, die Ausrichtung hin zu mehr Stabilität zu korrigieren. Stures Festhalten an einer vermeintlich alternativlosen Herangehensweise im Stile eines Andreas Zorniger in Stuttgart hätte in Gladbach ganz sicher niemand mitgetragen.
Ein Arschtritt für die Mannschaft
Bis zu den Spielen in Ingolstadt und Hannover war Borussia unter André Schubert – trotz der fehlenden Punkte auswärts – auf einem guten Weg. Die beiden letzten Auftritte waren allerdings ein deutlicher Rückschritt und sorgten dafür, dass auch Schubert direkt wieder angezählt wurde.
Max Eberl stellte sich demonstrativ hinter den Trainer und nahm die Spieler in die Pflicht. Der öffentlich verkündete »Arschtritt« nach dem Hannover-Spiel und die Warnung an die Profis, nicht das kaputt zu machen, was man sich erarbeitet hat, waren klar und deutlich.
Gleichzeitig nahm Eberl den ständig wabernden Gerüchten, Borussia wolle Schubert im Sommer wieder loswerden, jegliche Substanz. »André ist ein Trainer, der zu uns passt«, sagte Eberl. »Er hat eine Idee und wird die Zeit bekommen, seine Idee umzusetzen«.
Einen Vertrauensvorschuss verdient
Das ist zwar keine unbedingte Job-Garantie und auch kein Freifahrtschein, aber doch ein deutliches Signal: Es laufen keine verdeckten Operationen hinter dem Rücken von Schubert, um im Sommer einen neuen Trainer zu präsentieren. Borussia ist gewillt, mit André Schubert in die neue Saison zu gehen und untermauert die Überzeugung der Verantwortlichen, dass Herangehens- und Arbeitsweise von Schubert mit der Philosophie des Klubs vereinbar sind.
Ob es letztlich funktionieren wird, bleibt abzuwarten. Einen gewissen Vertrauensvorschuss haben sich sowohl Max Eberl als auch André Schubert verdient. Eberl konnte sich nun über mehrere Monate ein Bild von Trainingssteuerung und -inhalten sowie der Mannschaftsführung von Schubert machen. Wären da tatsächlich, wie teilweise kolportiert, deutliche Missstände aufgetreten, würde sich Eberl zweifelsohne nicht so weit aus dem Fenster lehnen und mit Schubert weitermachen.
Gleichwohl werden die letzten vier Saisonspiele eminent wichtig. Zum einen, um die sportlichen Ziele zu erreichen und eine verrückte Achterbahnsaison positiv zu beenden. Zum anderen, um auch öffentlich mehr Rückendeckung für die perspektivische Ausrichtung mit André Schubert zu bekommen. Damit auch auf der nächsten Jahreshauptversammlung wieder von einer »Entwicklung in allen Bereichen« geschwärmt werden kann.