Hecking und das verlorene Jahr

Dass es zudem im Laufe der Saison keine Weiterentwicklung gegeben hat, ist Hecking nicht alleine anzulasten. Zum einen lässt die Zusammenstellung des Kaders selbst mit ›voller Kapelle‹ kaum Raum für andere Spielsysteme als das 4-4-2 oder das 3-5-2 (Letzteres wurde durchaus sehr facettenreich interpretiert). Zum anderen war es nur logisch, dass Hecking in der Rückrunde angesichts der vielen Ausfälle so viel Stabilität wie möglich erhalten wollte. Da ging es um Bestandswahrung und Schadensvermeidung, aber nicht um den experimentellen Entwicklungsprozess.

Auch in Bezug auf die Startformationen oder die vorgenommenen Wechsel hat sich Hecking relativ schadlos gehalten. Dass er sich mal ›verwechselt‹ hat wie in Stuttgart, kann vorkommen. Aber über die Saison gesehen gab es da nur wenige Auffälligkeiten. Auch hinsichtlich der eingesetzten Spieler gibt es kaum etwas zu kritisieren. Für Verwunderung sorgte lediglich die anhaltende Nichtberücksichtigung von Vincenzo Grifo.

Also ist alles in Butter und die ganzen Kritiker schießen über das Ziel hinaus? Nein, so einfach ist es nicht. Die fehlende Identität im Spiel der Borussia ist durchaus mit Hecking verknüpft. Nachdem dieser nach seiner Amtsübernahme die Mannschaft stabilisierte, folgte das tragische Aus in der Europa-League, das verlorene Pokalhalbfinale und die verpasste Europa-League-Qualifikation.

Eine Neuausrichtung in der Sommerpause, der ersten ›normalen‹ Vorbereitung unter Hecking, blieb aus. Schon früh in der Saison rätselten wir über den Hecking-Stil (»Ungewöhnlich gewöhnlicher Fußball«) und trotz der 28 Punkte in der Hinrunde war Gladbachs Spiel geprägt von fehlender Konstanz. In dieser Phase, vor dem großen Verletzungspech und den vielen Fehlentscheidungen der Unparteiischen, verpasste es Hecking, der Mannschaft seinen Stempel aufzudrücken.

Spricht man mit den Spielern, so loben alle die respektvolle und gleichzeitig ehrlich und gradlinige Kommunikation mit dem Trainer. Dennoch hat sich der Eindruck verfestigt, dass Hecking die Spieler nicht so einzunehmen vermag, dass sie seinen Vorgaben bedingungslos folgen. Gerade das haben ein Tedesco, Kovac oder Nagelsmann mit ihren Teams deutlich wirkungsvoller hinbekommen: Die Emotionalität und Leidenschaft für die gemeinsame Sache zu vermitteln, zu entwickeln und auf dem Platz durchzuziehen.

Es gab im zurückliegenden Jahr sicher ein halbes Dutzend Pressekonferenzen, in denen Dieter Hecking deutlich ansprach, wie man sich im kommenden Spiel keinesfalls verhalten darf, weil man damit dem Gegner in die Karten spielt. Doch die Mannschaft machte später genau das, wovor der Trainer vorher gewarnt hatte. Wie kann das sein? Entweder haben die Spieler nicht zugehört oder aber der Plan, der ihnen mit an die Hand gegeben wurde, um eben die zu erwartenden Schwierigkeiten zu überwinden, war zu schlecht, nicht vorhanden oder hat die Spieler überfordert. Egal, was es letztlich ist - es ist alarmierend und liegt in der Verantwortung des Trainers.

Von daher betrifft die Sache mit dem ›Steine umdrehen‹ ganz sicher auch den Trainer. Dieter Hecking ist gefordert, einen Spielstil zu prägen, taktische Flexibilität einzubringen, den Spielern Lösungen mitzugeben und die Mannschaft auch emotional von einer gemeinsamen Linie zu überzeugen. Das ist eine große Aufgabe. Ob Hecking dafür der richtige Mann ist, muss letztlich Max Eberl im Kontext der Aufarbeitung des verlorenen Jahres beurteilen. Einfach ist das sicher nicht, aber es ist sein Job.

von Marc Basten