Die zweieinhalb Jahre unter Dieter Hecking als eine ‘Ära’ zu bezeichnen, wäre vielleicht etwas übertrieben. Dennoch hat der 54-Jährige in Mönchengladbach seine Spuren hinterlassen - und diese sind nachdrücklicher, als die aus seiner Zeit als Spieler bei den Fohlen in den 80ern. Dabei war Hecking alles andere als ein Wunschkandidat für viele Borussenfans, als er Anfang 2017 die Nachfolge von Andre Schubert antrat.
Zu dieser Zeit war einiges aus dem Ruder gelaufen, Mannschaft und Trainer bekamen die Belastung mit Champions League, Pokal und Liga nicht mehr in den Griff und es drohte der freie Fall in der Tabelle - das Abstiegsgespenst bahnte sich den Weg. Hecking nahm sich der Sache routiniert an, stabilisierte das Team, führte es in beruhigende Gefilde und ebnete den Weg in ein verheißungsvolles Saisonfinish. In der Europa League gab es das schon jetzt legendäre 4:2 beim AC Florenz, im DFB-Pokal wurde der Halbfinaleinzug perfekt gemacht und in der Liga waren die europäischen Startplätze in Reichweite.
Letztlich wurde nur der dringlichste Auftrag erfüllt
Doch als es in die Sommerpause ging, standen die Borussen mit leeren Händen da. In der Europa League flog man unglücklich gegen Schalke raus, obwohl man im Rückspiel zur Pause schon mit mehr als einem Bein in der nächsten Runde stand. Im DFB-Pokal wurde der Traum vom Finale abermals in den Sand gesetzt - Frankfurt gewann im Elfmeterschießen. Und in der Liga ließ man in den letzten Wochen zu viel liegen, so dass am Ende nur Platz 9 blieb.
Dieter Hecking hatte seinen dringlichsten Auftrag erfüllt und dafür gesorgt, dass die Mannschaft nicht vollends in den Tabellenkeller rutschte. Dass letztlich nicht mehr herauskam, konnte man Hecking nicht wirklich anlasten. Schließlich hatte er im Winter ein verunsichertes Team übernommen und eigentlich nur Maßnahmen ergreifen können, die sofort sitzen mussten. Perspektivisches Arbeiten war da nicht gefragt und so blieb die Frage nach der Handschrift von Dieter Hecking zunächst unbeantwortet.
Hecking gab der konturlosen Borussia ein neues Gesicht
Das änderte sich in der folgenden Saison, als er mit ‘seiner’ Mannschaft die komplette Vorbereitung absolvierte und durchaus vielversprechend startete. Doch bereits frühzeitig kamen die Fragen auf, für welchen Fußball die Borussia unter Hecking nun eigentlich steht. Nach dem wilden, oftmals begeisternden Powerfußball unter Schubert, spielte Heckings Borussia relativ konturlos, auch wenn die Resultate zunächst stimmten. Die Hinrunde geriet angesichts der Art des Fußballs überraschend erfolgreich, ehe es in der zweiten Saisonhälfte deutlich schlechter wurde. Die Gründe hierfür waren vielfältig, vor allem die teilweise extreme Verletzungsmisere sorgte dafür, dass über eine längere Phase kaum unter normalen Bedingungen gespielt und trainiert werden konnte.
So konnte die Frage nach dem Anteil von Dieter Hecking an der mit Platz 9 letztlich enttäuschenden Saison erneut nicht seriös beantwortet werden. Der Trainer selbst kündigte an, dass er sich in der neuen Spielzeit daran messen lassen würde, wenn er den kompletten Kader zur Verfügung hätte. So kam es dann auch, weil es deutlich weniger Verletzungen gab und Hecking über weite Strecken aus dem Vollen schöpfen konnte. Gleichzeitig sorgte der Coach mit der Festlegung auf das 4-3-3 für die endgültige Emanzipation vom Favre’schen 4-2-2 und erfand Borussia ein stückweit neu.
Berechtigtes Lob für Hecking von allen Seiten
Zum ersten Mal in seiner Zeit in Gladbach konnte Heckings Arbeit vernünftig bewertet werden und in der Hinrunde prasselte berechtigterweise von allen Seiten Lob auf den 54-Jährigen ein. Borussia startete durch und setzte sich mit teilweise begeisternden Darbietungen in der Spitzengruppe fest. Heckings im Sommer auslaufender Vertrag wurde feierlich um ein Jahr verlängert und auch wenn sich zum Ende der ersten Halbserie abzeichnete, dass die ‘neue’ Borussia von den Gegnern etwas entschlüsselt wurde, so ging man als klarer Champions-League-Aspirant in die Winterpause. Ein paar Modifizierungen hier und da, etwas Pressing einüben und vielleicht noch ein oder zwei Systemvarianten um den Gegner vor neue Aufgaben zu stellen - so sah die To-do-Liste für das Frühjahr aus.
Hecking änderte erstmal nichts und der Erfolg gab ihm Recht: Drei Siege in Folge zum Auftakt - auch wenn mit viel Glück (Leverkusen) - sorgten dafür, dass die Borussen am 20. Spieltag als ernsthafter Meisterschaftskandidat gefeiert wurden. Schon während der Hinrunde hatte Hecking mit Nachdruck darauf bestanden, dass der anhaltend gute Tabellenplatz nicht als Momentaufnahme kleingeredet werden dürfe. Vielmehr sei Borussia eine Spitzenmannschaft und nie war sie das mehr als an jenem Abend Anfang Februar in der Schalker Arena.
Der historische Sinkflug eines selbsternannten Spitzenteams
Was dann folgte, hat es in der Bundesliga in dieser Form noch nicht gegeben. Kein Team, das nach dem 20. Spieltag schon so viele Punkte (42) hatte, holte in den folgenden 14 Partien so wenige Zähler (13), wie Borussia im Frühjahr 2019. Diesen historischen Sinkflug des selbsternannten Spitzenteams hatte niemand auf der Rechnung. Die Fans schon mal gar nicht, aber auch Trainer und Mannschaft erwischte das Ganze völlig unvorbereitet. Zumal auch übliche Erklärungen wie übermäßige Verletzungen nicht als Ausrede herhalten konnten. Dieter Hecking war plötzlich nicht mehr als gefeierter Trainer einer durch seine Systemumstellung geformten Spitzenmannschaft gefragt, sondern als Krisenmanager eines verunsicherten Teams.
Hecking besann sich auf Altbewährtes: Ruhe und Besonnenheit, auf die Grundtugenden konzentrieren und die Mannschaft wieder auf das einschwören, was sie in der Hinrunde so stark gemacht hat. Doch das griff nicht wirklich, Borussia geriet immer mehr ins Taumeln. Nunmehr rächte sich, dass die To-do-Liste nicht mit der notwendigen Konsequenz abgearbeitet wurde und Plan B oder C für frische Impulse nicht vorhanden waren. Das Team punktete nur noch wie ein Absteiger und auf allen Ebenen wurde die Luft dünner.
Die Demission zum Saisonende kam zu einem unerwarteten Zeitpunkt
Der vorläufige Negativpunkt wurde bei der peinlichen Vorstellung in Düsseldorf erreicht. Hecking zählte seine Spieler anschließend öffentlich an und erklärte, dass Vorgaben des Trainerteams nicht eingehalten würden. Drei Tage später folgte die zu diesem Zeitpunkt überraschende Verkündung, dass sich Borussia zum Saisonende von Hecking trennen werde. Ungeachtet der Vertragsverlängerung vor wenigen Monaten und der aktuellen sportlichen Situation, sondern lediglich im Hinblick auf die Perspektive in der neuen Saison. Für Hecking kam die Demission gleichermaßen unerwartet, doch er trug sie ausgesprochen professionell. Er spielte das Spiel mit, nicht ohne hier und da kleine Spitzen in Richtung von Eberl & Co. zu setzen.
Unter dem Eindruck der Düsseldorf-Pleite, aber auch um dem ‘Lame-Duck’ Verdacht nach der angekündigten Trennung zu entgehen, nahm Hecking am nächsten Spieltag gegen Bremen erstmals größere Veränderungen vor und ließ die Mannschaft im 3-5-2 bzw. 3-4-1-2 auflaufen. Das Resultat (1:1) passte zwar nicht so ganz, doch eine klare Leistungssteigerung war auszumachen. Eine Woche später holte Borussia so gerade eben den Pflichtsieg in Hannover, ehe man im nächsten Heimspiel gegen Leipzig mit 1:2 unterlag. Allerdings spielte die Mannschaft - immer noch im ‘neuen’ System - gegen RB mehr als ordentlich, so dass man trotz der fehlenden Punkte optimistisch sein konnte, dass es reichen würde, um in den verbleibenden Partien Platz 4 über die Ziellinie zu retten.
Hecking verlässt Borussia erhobenen Hauptes
Doch dann kam der katastrophale Auftritt in Stuttgart, als faktisch die Champions League hergeschenkt wurde. Wie schon nach Düsseldorf schob Hecking die Verantwortung von sich und nahm die Mannschaft in die Pflicht, die zum wiederholten Male nicht das umsetzen konnte, was ihr der Trainer mit auf den Weg gegeben hatte. Auch wenn plötzlich nicht nur die Champions League, sondern sogar die Europa League in Gefahr geriet, verzichtete Max Eberl darauf, für eine letzte Initialzündung zu sorgen und vor den finalen drei Partien einen Trainerwechsel zu vollziehen. Nach dem Motto ‘Augen zu und durch’ ging man es an. Im folgenden Heimspiel gegen Hoffenheim war Borussia komplett unterlegen, ergaunerte sich aber mit ganz viel Glück ein 2:2. Eine Woche später reichten neun Minuten beim Absteiger Nürnberg für einen Auswärtssieg, der aufgrund der kollektiv strauchelnden Konkurrenten die sichere Qualifikation für Europa brachte.
Beim Saisonfinale gegen Dortmund blieb man - trotz guter erster Halbzeit - chancenlos und verpasste die Champions League. Auch weil im zweiten Durchgang wieder diese Lethargie herrschte, über die man sich in der Rückrunde so oft grämen musste. Dieter Hecking verließ den Borussia-Park als Tabellenfünfter dennoch erhobenen Hauptes und unter echten Tränen. Dass er auch mit dem Herzen bei der Borussia war, ist unbestritten. Das Verhältnis mit der Mannschaft war vertrauensvoll, auch wenn es sich an der einen oder anderen Stelle abgenutzt hatte. Eine Einheit waren sie zu jeder Zeit, ein bedingungslos verschworener Haufen jedoch nicht. Hecking hat in seinen zweieinhalb Jahren vieles richtig gemacht, sich immer anständig verhalten und letztlich dafür gesorgt, dass Borussia mit Rang 5 eine Platzierung erreicht hat, die vor der Saison jedermann als Erfolg abgenickt hätte.
Er weiß, wie es läuft und spielt die Klaviatur nahezu perfekt
Mit Dieter Hecking verliert Borussia Mönchengladbach einen absoluten Vollprofi auf der Trainerbank. Zumindest im Borussia-Park hat noch nie ein Gladbacher Trainer gewirkt, der seinen Beruf mit so viel Selbstsicherheit ausgeübt hat, wie Hecking. Er ist nie als Zweifler oder Dummschwätzer aufgefallen, sondern hat nahezu immer treffend analysiert, was gut und was weniger gut war. Dabei verstand er es stets, sich bei seinen kritischen Anmerkungen nicht selbst ins Knie zu schießen. Zudem muss man Hecking für seinen wohlüberlegten Umgang mit den Medienvertretern Respekt zollen. Er weiß, wie das Geschäft funktioniert und spielt die Klaviatur nahezu perfekt. Ohne sich anzubiedern, aber vor allem, ohne sich selbst zu schaden. Trotz mancher Krise und diesem fatalen Sturzflug in den letzten drei Monaten hielten selbst die Boulevardmedien bis zuletzt still.
Gleichwohl ist die Trennung im Sommer eine nachvollziehbare und richtige Entscheidung. Die Rückrunde wäre in ihrem ganzen Schrecken noch viel gravierender, wenn man sie als Basis für die neue Saison nehmen müsste. Die Aussicht, dass ein neuer Trainer kommen wird und der Verein aktiv eine Veränderung anstrebt, sorgt für mildernde Umstände. Auch wäre Hecking bei den Fans sicher nicht so respektvoll durch die letzten Monate gekommen, hätte der Abschied nicht schon festgestanden. So endet die Episode Hecking und Borussia zum richtigen Zeitpunkt und ohne dass eine Seite dabei ihr Gesicht verloren hat. Dieter Hecking wird man ganz sicher alsbald in Amt und Würden wiedersehen - sein Standing im Trainergeschäft hat jedenfalls nicht gelitten.
von Marc Basten