Trotz fehlender Punkte hatte der Saisonstart die Hoffnung geweckt, dass Borussia endlich den Turnaround schaffen würde und die kontinuierliche Negativentwicklung der letzten Jahre vom Champions-League-Teilnehmer zum Abstiegskandidaten stoppen und zumindest ansatzweise in die andere Richtung steuern könnte. Doch die Leistungskurve geht in den letzten drei Spielen deutlich nach unten und lässt bereits zu diesem frühen Zeitpunkt der Saison die Alarmglocken läuten.
Zu Beginn sorgten die drei Neuzugänge für eine sichtbare Mentalitätsveränderung in der Mannschaft, doch dieser Effekt ist in den vergangenen Wochen verblasst. Zwar sind Kleindienst und Stöger, und mit Abstrichen auch Sander, nach wie vor echte Verstärkungen, aber es war vielleicht etwas zu blauäugig darauf zu hoffen, dass sie die Mitspieler allein durch ihr Selbstverständnis mitziehen und tragen würden. Stattdessen gewinnt man den Eindruck, als ob alle drei im Moment genug damit zu tun haben, sich nicht herunterziehen zu lassen.
Das Spiel sollte schon auf Kleindienst zugeschnitten sein
Derweil werden die grundsätzlichen Probleme immer offensichtlicher. Wenig verwunderlich ist, dass die unveränderte und in Qualität und Quantität sogar noch ausgedünnte Abwehr nicht plötzlich vor Stabilität strotzt. Auch wenn durch die Doppelsechs eine verbesserte Statik vorhanden ist, von der die Ketten-Spieler profitieren, ist es hinten ein wackeliges Konstrukt. Vor allem die Außenverteidiger wirken überfordert, weil sie offensiv zu wenig Wirkung entfalten, um ihre großen Mängel in der Defensive zu kompensieren.
In der Offensive hat man es bislang nicht verstanden, Tim Kleindienst richtig einzubinden. Natürlich muss es auch andere Varianten geben, als Flanken auf Kleindienst, aber das Spiel sollte schon auf ihn zugeschnitten sein. Wenn aber wie in Augsburg allein die beiden Außenverteidiger als Flankengeber vorgesehen sind, die Flügel ansonsten jedoch nicht oder mit positionsfremden Spielern wie Čvančara besetzt sind, beraubt man sich selbst seiner Waffen. Scally schlug keine einzige Flanke, Netz probierte es zweimal vergeblich.
Nur das Offensichtliche zu benennen, ist zu wenig für einen Trainer
Wenn es um die Ausrichtung und Herangehensweise geht, landet man unweigerlich beim Trainer. Gerardo Seoane hat im Sommer auf ein 4-2-3-1 umgestellt und lässt dieses System bislang kontinuierlich spielen. Variationen gibt es in der Besetzung der Doppelsechs und der offensiven Dreierreihe, aber die grundsätzliche Ordnung ist starr. Die Gegner haben sich mittlerweile gut darauf eingestellt, indem sie Stöger und Plea sehr intensiv bearbeiten. Damit schränken sie die Kreativität im Gladbacher Spiel weitestgehend ein.
Lösungen auf dem Platz werden nur wenige gefunden, Hilfe von außen kommt während eines Spiels nicht. Die ersten Ausfälle aufgrund Muskelverletzungen kommen erschwerend hinzu. Seoane spricht zwar offen Defizite wie technische Fehler, mangelnde Passschärfe und zu wenig Tiefe im Spiel an, doch das Offensichtliche nur zu benennen, ohne dass sich etwas verändert, ist in seiner Position zu wenig. Nach sechs Spieltagen den Trainer infrage zu stellen, wäre unter normalen Umständen deutlich verfrüht, aber in diesem Fall fließt in die Bewertung auch die letzte Saison mit ein.
Die nackten Zahlen sind erschütternd
Gerardo Seoane hat die Fohlenelf in bislang vierzig Bundesligaspielen gecoacht, mit der Vorgabe, die Mannschaft auf den viel zitierten, aber gleichwohl wenig greifbaren „Borussia-Weg“ zu bringen. Die nackten Zahlen sind nicht nur ernüchternd, sie sind erschütternd. Und auch die Soft Facts taugen nicht, um die Situation zu entschärfen. Es macht nicht den Eindruck, dass zwischen Mannschaft und Trainer eine besondere Symbiose herrscht. Es ist, so ist abseits offizieller Verlautbarungen zu erfahren, ein professionell seriöses und anständiges Miteinander, nicht mehr und nicht weniger.
Seoane ist kein ‘Verbesserer’ wie einst Lucien Favre und auch kein ‘Menschenfänger’ wie Marco Rose. Er definiert sich über eine klare und sachliche Ansprache und ist eine Respektsperson. Seine fachlichen Qualitäten sind unbestritten, aber es stellt sich immer mehr die Frage, ob dies für die Situation in Gladbach die richtige Kombination ist. Schließlich geht es bei Borussia in erster Linie darum, aus einem individuell interessanten, aber in seiner Gesamtheit schlecht ausgewogenen Kader das Bestmögliche herauszuholen.
Ist aus den vorhandenen Einzelspielern tatsächlich nicht mehr herauszuholen?
Die Kaderzusammenstellung kann man Seoane nicht anlasten, aber man darf ihn auch nicht gänzlich aus der Verantwortung lassen. Dass man für einen Florian Neuhaus trotz einer hoch dotierten Vertragsverlängerung keine Verwendung hat oder dass der 10-Millionen-Einkauf Tomáš Čvančara als Zentrumsstürmer nicht integriert und jetzt plötzlich als Rechtsaußen verschenkt wird, hat schon etwas mit dem Trainer zu tun. Die Kunst besteht doch darin, angesichts der vorhandenen Qualitäten im Kader das beste System zu finden und die Spieler entsprechend einzusetzen. Und hier muss sich Gerardo Seoane die berechtigte Frage gefallen lassen, ob aus diesen vorhandenen Einzelspielern in Summe tatsächlich nicht mehr herauszuholen ist, als knapp über der Abstiegszone zu stehen und jedem kleinen Fortschritt postwendend einen Rückschritt folgen zu lassen.
Erschwert wird die Gesamtsituation durch die Konstellation auf der Führungsebene. Roland Virkus musste man bislang immer zugutehalten, dass seine Handlungsfähigkeit durch die von seinem Vorgänger hinterlassenen Altlasten eingeschränkt war. Doch dieses Argument greift mittlerweile nicht mehr. In Augsburg stand mit Luca Netz nur ein Profi in der Startelf, dessen Vertrag (Laufzeit bis 2026) in der Ägide unter Max Eberl geschlossen wurde. Alle anderen Spieler wurden entweder von Virkus verpflichtet, oder aber ihre Verträge (u. a. Plea und Scally) in seiner Amtszeit verlängert.
Es ist ganz eindeutig ein ‘Virkus-Kader’
Es ist also ohne Wenn und Aber ein ‘Virkus-Kader’, mit dem Gerardo Seoane arbeiten muss oder darf. Dass z. B. viel Geld für Rechtsaußen Ngoumou bezahlt und ein Jahr später mit Honorat ein weiterer teurer Spieler für diese Position geholt wurde, während die Linksverteidigerposition lediglich mit zwei jungen Talenten besetzt blieb, liegt in der Verantwortung von Virkus. Weigl als Wunschtransfer von Trainer Farke zu holen und dem Trainer kurz darauf das Vertrauen zu entziehen, ebenfalls. Auch die erwähnte Vertragsverlängerung von Neuhaus, ohne dass es einen Plan gab, wie man diesen wirklich einsetzen könnte, geht auf das Konto des amtierenden Sportchefs.
Virkus hat den Kader zusammengestellt, er hat die Entlassung von Adi Hütter forciert und mit seinem absoluten Wunschtrainer Daniel Farke eine Bauchlandung hingelegt. In diesem Zusammenhang sei auch nochmals erwähnt, dass Lucien Favre seinerzeit schon bei den Borussen seine Bereitschaft signalisiert und sein Rückzieher erfolgte, nachdem er von den parallelen Verhandlungen des Sportdirektors mit Farke erfahren hatte. Im Nachhinein bleibt es immer noch ein wenig rätselhaft, wie Virkus Farke nach einem Jahr so geräuschlos und für sich selbst folgenlos ‘beseitigen’ konnte.
Der Vertrauensvorschuss für Trainer, Sportdirektor und Präsidium ist auf Kante genäht
Dennoch ist klar, dass Virkus nicht endlos viele Freischüsse in Bezug auf die Trainerfindung hat. Deshalb war eine Trennung von Gerardo Seoane nach der katastrophalen letzten Saison auch keine wirkliche Option für ihn. Er schaffte es - wie auch immer - das Präsidium zu überzeugen, dass drei kluge Transfers und die Justierung einiger Stellschrauben ausreichen, um den eingeschlagenen Weg mit Seoane weiterzugehen. Kritiker und Zweifler mussten die Entscheidung der Vereinsführung schlucken, weil ihnen nichts anderes übrig blieb.
Dies bedeutet jedoch auch, dass Trainer, Sportdirektor und Präsidium mit einem Vertrauensvorschuss in die Saison gegangen sind, der extrem auf Kante genäht ist. Es war vorauszusehen, dass die Lunte bei vielen sehr kurz sein würde, wenn sich die Misserfolge zu häufen beginnen. Und entsprechend ist es nicht überraschend, dass in Mönchengladbach bereits nach sechs Spieltagen über den Trainer diskutiert wird und Rufe nach Konsequenzen laut werden, die auch und besonders die sportlichen Strategen des Klubs betreffen.
Entscheidende Phase bis zur nächsten Länderspielpause
Ohne Frage - das ganze Konstrukt Borussia steuert bereits auf den Kipppunkt zu. Die Phase bis zur nächsten Länderspielpause wird dabei entscheidend werden. Mit Heidenheim (H), Mainz (A) und Werder (H) warten drei Gegner aus der Kategorie ‘Augenhöhe’. Dazwischen steht das Bonus-Spiel im Pokal bei der Frankfurter Eintracht an, ehe es vor dem dritten ‘International-Break’ der Saison zum Klub aus dem künftigen Jürgen-Klopp-Imperium nach Leipzig geht. Spätestens dann wird man wissen, ob es bei Borussia in dieser Konstellation weitergehen kann oder das Ziehen der Notbremse unumgänglich wird.