Seit 1978 bin ich Fohlenfan, tausende Erinnerungen leben in meinem Herzen, eine Aufzählung würde den Rahmen sprengen - also Schnelldurchlauf: Auf- und Abstiege, Niederlagen, glorreiche Siege, bittere Pleiten in letzter Sekunde - was habe ich gejubelt, mitgezittert, geflucht, gelacht, geweint.
Verlor Borussia, dann war das Wochenende durch, bei Sieg war die Welt kunterbunt. Wie oft war der Puls bei 180, wie oft war ich kurz vorm kollabieren, wie oft aktualisierte ich um 17:20 Uhr noch einmal auf dem Handy die Ergebnisse, um eine Niederlage in der Nachspielzeit zu erleben. Was schmerzte es, wenn Lieblingsspieler gingen. Doch egal, was passierte, die Liebe zur Borussia blieb.
Was war ich stolz, als sich Sohnemann mit 9 Jahren für die Borussia entschied. Ich warnte ihn gleich vor: »Du musst nicht für mich Gladbacher werden. Bist du für Borussia, dann ist es wie das Leben: Wenn du glaubst, du hast es geschafft und bist oben, dann steht da einer und haut dir auf den Kopf. Alternativ wirst du Bayern-Fan, ärgerst dich, weil sie nur 4:0 gewonnen haben und erst am 20. Spieltag Meister sind.« Er entschied sich für die Borussia!
Danach konnte ich mit ihm endlich meine eigene Kindheit nachholen: 1.000 Kilometer hin und zurück zum Spiel, 2 Übernachtungen, Tickets, Fanshop, Training anschauen, Autogramme sammeln, Stadionführung und Fohlenwelt - ein Traum wurde wahr! Zwar kosteten die Touren eine Stange Geld - egal, Borussia! Sohnemann durfte sogar 4 Tage zur Fußballschule, Vater genoss jede Minute auf dem Fohlengelände - goldene Erinnerungen! In seinem Schrank hängen 2 Originaltrikots von ter Stegen, 2 von Patrick Herrmann, er hat zig Kalender mit Autogrammen und Widmungen, die Handschuhe von Yann Sommer, Fotos mit Spielern…
Und wenn er traurig war, weil in seiner Klasse nur Bauern- und Doofmundfans waren, dann erinnerte ich ihn an unsere Erlebnisse: »Lass sie alle Erfolgsfans sein, was du geschenkt bekommen hast, das wird kaum ein anderer Junge erleben!« Nur die Borussia! Nur einen Wunsch erfüllte ich ihm nicht: Sky. Warum? Weil unser Fernseher keine 14 Tage überlebt hätte…
März 2021: Wir sitzen vor dem Fernseher, schauen das Pokalspiel gegen Dortmund. Es gab Zeiten, da wäre ich schon vor dem Spiel durch gewesen, spätestens nach dem 0:1 wäre ich emotional explodiert, hätte bis zur letzten Minute gehofft und gezittert, um anschließend eine schlaflose Nacht zu haben. Doch seit Wochen ist es anders. Wir beide schauen auf den Bildschirm, keine Emotionen, wir sind gelangweilt, das Spiel nimmt uns mit wie eine Folge von »Bauer sucht Frau!« Abpfiff, 0:1, warum ist es mir/uns so egal?
Bin ich nach über 40 Jahren »Amtsmüde«? Nein! Ich kann diese ganze Fußballblase einfach nicht mehr ertragen! Während Millionen Menschen in dieser Pandemie um Jobs und Gesundheit zittern, auf eine Impfung warten, von einem Lockdown in den anderen getrieben werden, sozial vereinsamen und am Ende ihrer physischen und psychischen Kräfte sind, läuft der Ball in der Scheinwelt weiter - und es wird kaum hinterfragt! Währen kein Hobbyfußballer einen Ball treten darf, stellt sich ein Millionär wie Hannes Wolf hin und sagt, er hätte derzeit etwas den Spaß am Fußball verloren - ich könnte im Schwall erbrechen!
In allen Medien beherrscht Marco Rose die Landschaft, die Netzwerke platzen vor Hass - warum nimmt diese Meldung so viel Raum in den Köpfen ein? Vielleicht, weil man sich in dieser globalen Krise Verlässlichkeit, Demut, Ehrlichkeit sowie klare Aussagen wünscht? Wie krankhaft ist es, wenn Borussia sein Heimspiel in der Champions-League in Budapest austrägt! Moral egal, die Kohle muss laufen. Es dauerte beim 1. Lockdown keine 4 Wochen, da kollabierten die ersten Klubs - würde ich meine Familie finanziell so führen, dann wäre unser Haus schon weg!
Ich will gar nicht davon anfangen, dass ich Monate warten musste, bis ich mein Geld für Tickets wiederbekam, während die geliebten Millionäre die Taschen weiterhin gefüllt bekamen. Ja, ich weiß, die Spieler haben auf Geld verzichtet, tolle Aktion, aber sicherlich bei 3 Millionen aufwärts im Jahr auch zu verkraften, oder? Es nervt nur noch, dass die Klubs sich auf der einen Seite als reine Wirtschaftsunternehmen präsentieren, aber nicht so handeln (dann hätte Coach Rose in seiner Position noch am Tag seiner Verkündung die Schlüssel abgegeben), wenn es aber gerade passt, die Blase eines Fußballvereins aufrecht gehalten wird.
Plötzlich sind wir ein Verein, alle sind nur Menschen, wir müssen zusammenhalten, die Fans sind wichtig, Tradition ist stark, die Seele brennt - Bullshit! Es geht um Kohle, die Fetten werden immer fetter, Borussia ist nur Beiwerk, darf auch mal etwas vom großen Kuchen abhaben - und ist trotz grandioser Arbeit Lichtjahre von Bayern München weg! Borussia spielte vorherige Serie die beste Spielzeit seit meiner Kindheit - um am Ende gefühlte 100 Punkte Rückstand auf die Bauern zu haben - wann soll Gladbach jemals wieder Meister werden?
Von leeren Rängen, VAR, monotone und lustlose Interviews, Trikots für fast 100 Euro, Phrasenschwein-Antworten und Spieler, für die Borussia 11 Millionen Euro bezahlt, wo irgendwie das Komma zwischen den Zahlen fehlt, fange ich erst gar nicht an… Und tatsächlich, ich habe es geschafft den emotionalen Tiefpunkt zu erreichen! Ich hatte am Dienstagabend null Ahnung, wie Borussia gegen Manchester gespielt hat, habe nur am Mittwoch kurz auf das Ergebnis geschaut - unvorstellbar, dass mir das mal so egal sein könnte…
Meine Seele brennt nicht mehr, ich habe gerade das Gefühl, als würde ich mich von einem alten, geliebten Weggefährten verabschieden. Die Erinnerungen an ihn werden aber immer in meinem Herzen bleiben: Wie ich mit 10 Jahren am Radio saß und dem 12:0 gegen Dortmund lauschte - danach war es um mich geschehen. Wie ich weinte, als Borussia 1980 im Rückspiel des Uefa-Cups 0:1 verlor, 1984 die Niederlage im Pokalendspiel, Pokalsieg 1995… - wie gesagt, eine Aufzählung würde den Rahmen (noch weiter) sprengen…
Ich habe fertig!
Volker Mai