Nicht Roy Makaay sondern Jef Dorpmans war der erste Spieler von Vitesse Arnheim, der international im Scheinwerferlicht stand. Wir sprachen mit dem mittlerweile 81-jährigen Niederländer über dieses denkwürdige Europapokalspiel vom 20.10.1971, in dem der Italiener Roberto Boninsegna von einer Colabüchse getroffen wurde und Borussia im europäischen Fußball trotz späterer Annullierung erstmals auf sich aufmerksam machte. Jef Dorpmans lud uns ins Gelredome, dem Stadion seines Klubs Vitesse Arnheim ein und hielt dort eine Überraschung parat.
TF: Herr Dorpmans, danke für die Einladung. Warum wollen Sie uns hier im Gelredome, dem Stadion von Ehrendivisionär Vitesse Arnheim, treffen?
Dorpmans: Erstens, weil ich hier meine Spielerkarriere angefangen habe und zweitens, weil ich Euch nachher etwas zeigen möchte.
TF: Sie haben also selber Fußball gespielt?
Dorpmans: Ja. Ich habe schon mit 16 Jahren als Mittelstürmer in der ersten Mannschaft von Vitesse gespielt. Das war 1941, ich war Mittelstürmer. Meine Karriere endete allerdings, als ich etwa 27 Jahre alt war.
TF: Warum so früh?
Dorpmans: So langsam ging der bezahlte Fußball los und ich war eher ein trainingsfauler Spieler. Mich fragte dann Joop Martens, der damals ein Spiel von Vitesse geleitet hat, ob ich keine Lust habe, Schiedsrichter zu werden. So bin ich dann Schiedsrichter geworden. Da ich Aktiver war, musste ich eigentlich nicht ganz unten anfangen, aber trotzdem habe ich zunächst in der untersten Klasse gepfiffen. Nach zwei Jahren leitete ich dann schon Spiele bei den höheren Amateuren und bald kamen auch die Spiele der Profis hinzu.
TF: Eine steile Karriere, die frühzeitig mit internationalen Auftritten belohnt wurde. Ihr berühmtestes Spiel war sicherlich das legendäre Europapokalspiel am Bökelberg zwischen Borussia Mönchengladbach und Inter Mailand. Woran erinnern Sie sich noch von diesem Spiel?
Dorpmans: Das Spiel war mein erstes großes Europapokalspiel. Ich hatte zuvor schon ein Spiel in Salzburg geleitet und dort wurde ich von dem Vorsitzenden der Schiedsrichterkommission der UEFA beobachtet. Drei Wochen später stand das Spiel Borussia gegen Inter auf dem Programm und meine Leistung gab wohl Anlass, mich das Spiel pfeifen zu lassen.
TF: Die Italiener hatten zu der Zeit eine Mannschaft, die führend in Europa war.
Dorpmans: Ja, aber die Deutschen spielten so fantastisch und führten innerhalb kürzester Zeit mit 4 oder 5:0, wenn ich mich richtig erinnere.
TF: Nein, leider nicht. Nach Netzers Führung glich Mailand zwischenzeitlich aus. Ulrik le Fèvre erzielte die erneute Führung und dann kam die 28. Spielminute. Was passierte dann genau?
Dorpmans: Da ging es heftig zur Sache. Plötzlich gab es eine Rangelei, denn von der Tribüne war eine Coladose geworfen worden. Ich selbst habe nichts gesehen, aber in meinen Augen, war es eine leere Dose. Die Italiener lagen zu diesem Zeitpunkt in Rückstand und witterten ihre Chance. Die hat der am Boden liegende Boninsegna dankend angenommen und sehr gut genutzt. Das muss man so sagen.
TF: Sie haben das Spiel für sieben Minuten unterbrochen. Was passierte in dieser Zeit?
Dorpmans: Im Prinzip wenig. Ich bin für kurze Zeit in die Kabine gegangen und dorthin kam der Polizei-Hauptkommissar von Mönchengladbach, der mich bat, das Spiel fortzusetzen, weil auch etwa 7.000 Italiener im Stadion waren. Auch Matt Busby, der an jenem Abend für die UEFA als Schiedsrichterbeobachter vor Ort war, dachte keine Sekunde an einen Abbruch. Er meinte, wenn es nötig sei, sollte ausgewechselt und mit dem Spiel fortgefahren werden. Innerhalb dieser sieben Minuten ging es dann auch weiter, obwohl es die Italiener mächtig ärgerte.
TF: Was hatte Boninsegna? Konnten Sie erkennen, ob er verletzt war?
Dorpmans: Nein. Ich bin kein Arzt. Davon habe ich meine Hände gelassen.
TF: Wahrgenommen habe Sie also nichts?
Dorpmans: Nein. Ich habe selber nichts wahrgenommen. Ich bin da auch nicht hingegangen, denn es hätte keinen Zweck gehabt. Wenn der Spieler gesagt hätte, er sei verletzt und ich hätte das in Abrede gestellt, wäre doch die Frage gekommen, ob ich Arzt oder Schiedsrichter sei.
TF: Aber hatten Sie nicht die Vermutung, es könne sich um Simulation handeln?
Dorpmans: Davon kann man bei den Italienern eigentlich fast generell ausgehen, aber ich hatte keine Beweise. Wegen der Bitte der Polizei und da sowohl Matt Busby als auch ich keinen Anlass für einen Spielabbruch sahen, haben wir das in der Kabine Besprochene umgesetzt. Busby sagte zu mir ‚“Dorpmans, lassen Sie weiterspielen, das ist wohl das vernünftigste!“. Die Italiener wollten zunächst nicht weiterspielen, aber Matt Busby erklärte ihnen, dass sie alle Chancen verspielen würden, wenn die nicht wieder auf den Platz gehen würden. Sie traten wieder an und kamen letztendlich mit 7:1 unter die Räder.
TF: In der Halbzeitpause, die Borussia führt inzwischen mit 5-1, durfte niemand zu dem Verletzten. Stimmt das?
Dorpmans: Das weiß ich nicht. Ich bin nie in die Umkleidekabinen der Spieler gegangen. In der Pause habe ich niemand gesehen, alles verlief ordnungsgemäß. Die Mailänder waren sich schon einig, dass sie Protest einlegen würden. Damit haben sie ja auch Erfolg gehabt.
TF: Glauben Sie, dass die Italiener das Spiel deshalb so hoch verloren haben?
Dorpmans: Nein. Die Deutschen haben so ein fantastisches Spiel gemacht. Das war einmalig. In der zweiten Halbzeit haben sie noch zwei Tore nachgelegt. Der weitere Verlauf des Spiels war reibungslos und auch nach Spielende war alles ganz normal. Die Italiener waren aber wohl davon überzeugt, dass sie am Grünen Tisch gewinnen würden und die Gladbacher waren davon überzeugt, 7-1 gewonnen zu haben. Es kam dann zu einem Wiederholungsspiel in Berlin das im Übrigen von Jack Taylor, dem Schiedsrichter des WM-Finales 1974, geleitet wurde.
TF: Dieses Wiederholungsspiel endete 0-0, wobei ausgerechnet Boninsegna dem Borussen Luggi Müller das Schien- und Wadenbein gebrochen hat. Bitter oder?
Dorpmans: Daran kann ich mich leider nicht erinnern. Ich fand das Wiederholungsspiel unnötig. Die UEFA dachte anders darüber. Punkt.
TF: Sie haben auf dem Bökelberg mit Mario Corso noch einen Inter-Spieler vom Platz gestellt. Warum?
Dorpmans: Weil er mich angegriffen hat!
TF: Wie bitte?
Dorpmans: Ja. Das war kurz vor Schluss. Corso lief mir im Vorbeigehen extra vor die Füße. Dafür habe ich ihm die rote Karte gezeigt. Ich bin eigentlich nie so der große Kartenzücker gewesen und schon gar nicht bei den roten Karten. Die habe ich eher selten gegeben. Ich habe vieles verbal geregelt. Corso hat übrigens für sein Vergehen einige Spiele Sperre erhalten.
TF: Nach einem Tor von Günter Netzer wurden Sie von einem Italiener von hinten angeschossen.
Dorpmans: Tatsächlich? Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich vermute, dass das aus dreißig oder vierzig Metern auch keine Absicht war. Man sollte als Schiedsrichter auch nicht auf alles reagieren, was auf dem Platz passiert. Manchmal sollte man ein Auge zudrücken, sonst machst du dir das Leben auf dem Platz unnötig schwer.
TF: Hand aufs Herz, Herr Dorpmans, hatten sie mit einer Annullierung gerechnet?
Dorpmans: Nein. Nach Spielende habe ich mich mit Matt Busby unterhalten und er meinte, dass in England so was unmöglich gewesen wäre. Es gab eine Menge Italiener in den UEFA-Gremien, und ohne jetzt etwas unterstellen zu wollen, Inter Mailand hatte die richtigen Leute an der richtigen Stelle.
TF: Sind Sie am selben Abend wieder nach Hause gefahren?
Dorpmans: Nein. Erst am Morgen danach. Man musste am Abend vor dem Spiel vor Ort sein und durfte erst am Tag nach dem Spiel wieder abreisen. Und das alles für 100 schweizerische Franken pro Tag. Als ich dann nach Hause kam, saßen schon Dutzende von Journalisten vor meinem Haus. Die meisten kamen aus Italien, aber auch deutsche und niederländische Pressevertreter waren angereist. Man wollte wissen, warum ich die Partie unterbrochen und später weiterspielen lassen habe. Bevor ich den italienischen Journalisten Rede und Antwort gestanden habe, habe ich Henk Daleman gebeten meine Worte zu übersetzten. Ich konnte mich zwar auf deutsch und englisch gut und ein wenig auf französisch verständigen, aber ich wollte unbedingt einen Dolmetscher, damit meine Worte nicht irgendwie verdreht werden konnten.
TF: Hätten Sie darauf überhaupt Einfluss gehabt?
Dorpmans: Vermutlich nicht, aber mir wurden etliche Zeitungen aus Italien zugeschickt und ich muss sagen dass, obwohl man der Meinung war, dass ich nicht hätte weiterspielen lassen sollen, man fair berichtet hat.
TF: Sie waren auch bei der mündlichen Verhandlung dabei?
Dorpmans: Natürlich. Ich wurde als Zeuge nach Genf eingeladen und ich musste meine Sichtweise von den Vorfällen anhand des Spielberichts vor der Disziplinarkommission der UEFA schildern. Bis zur Entscheidung, die am nächsten Tag bekannt gegeben wurde, erteilte man mir ein Redeverbot. Anhand der Sitzung ist man zum Entschluss gekommen, dass ein Wiederholungsspiel angebracht sei. Trotz allem war die ganze Geschichte ein schönes Ereignis. Es war ein unvergessenes Spiel, das in die Geschichtsbücher eingegangen ist.
TF: Wo ist die Büchse eigentlich geblieben?
Dorpmans: Die Büchse, die so berühmt geworden ist, habe ich nach dem Spiel mitgenommen. Sie wurde mir nach der Partie vom Polizei-Hauptkommissar überreicht und sie war leer. Jahre später habe ich sie dem Vereinsmuseum von Vitesse Arnheim geschenkt. Hier gibt es auch eine kleine Ausstellung zu meiner Person.
TF: Haben Sie noch mehr Andenken von diesem Spiel?
Dorpmans: Einige. Ich habe von meiner Karriere viel aufbewahrt. Die Stadionzeitung FohlenEcho, ein Ankündigungsplakat oder zum Beispiel ein Telegramm von der UEFA, die mich zur Kommissionssitzung ins Hotel du Rhone in Genf am 28.10.1971 für 19.30 Uhr einberufen hat. Oder das Beurteilungsformular für Schiedsrichter, auf dem mir Matt Busby eine gute Leistung bescheinigt: „I congratulated the referee and linesmen after the match. They did very well and it wasn´t easy at times” hat er notiert. Busby erwähnt den Vorfall übrigens nicht. Er schreibt nur: „I agreed with the action of the referee on disciplinary control on the field“ sowie „The referee was helped considerably with the linesmen and they were a good team.“ Meine Assistenten waren van Gemert und Pijpers, auf dessen Seite der Büchsenwurf passierte.
TF: Jetzt wollen wir die Büchse aber sehen, Herr Dorpmans. Wo ist sie?
Dorpmans: Hier in dieser Vitrine. Und wenn Ihr weg seid, rufe ich Coca-Cola an. Ist doch eine tolle Werbung! (..lacht..)